Mittwoch, 4. April 2012

Kritik, Teil zwei

Kritik, Teil zwei
Nächste Aktualisierung Anfang Juli 2012


Seit Jahren sind mir die Gedichte von Mohammad Ahmadijan bekannt. Es sind einfache Gedichte, doch vielsagend und bedeutsam.
Es gibt viele Szenen des alltäglichen Lebens, die wir entweder nicht sehen oder wir sehen sie, ohne dass irgendein Gefühl in uns erwecken. Mit Straßenbahn fahren, Kaffeetrinken, Rauchen, ein Spaziergang im Park oder durch die Fußgängerzone, Einkaufen gehen und ... gehören zum Ritual und sie haben keinen Sinn mehr für uns. Der Dichter, Ahmadijan, hat die Fähigkeit diese Rituale anders zu beobachten und zu spüren. Er zieht ihre verborgenen Sinne heraus und macht aus ihnen eine feine Lyrik. Die Gedichte liegen uns so nah, dass man sich beim lesen fragt: Die Themen und Objekte sind mir doch bekannt und warum kann ich trotzdem nicht wie er dichten?
Die Wörter, die er für Darstellungen seines Empfindens benutzt sind alle einfach, vertraut und nett. Die Leser täuschen sich deshalb, dass jeder dichten könne oder das Dichten gar nicht schwierig sei.
Ich sehe nach dem Lesen seiner Gedichte meine Umgebung anders als bisher. Alles ist ein Sujet oder ein Thema zum Dichten. Ich versuche dann die einfachen täglichen Gebräuche aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Das alles aber als Lyrik zu äußern fordert eine aussagekräftige Form, die der Lyriker im Laufe der Jahre als einen Stil für seine Arbeit gefunden hat. Man sieht zwar viele sich wiederholende Strophen, die erst langweilig scheinen, aber er überrascht uns auf einmal mit einer schönen Strophe, die uns revitalisiert. Obwohl er in seinen Gedichten viele Bitternisse veranschaulicht, sind die Wörter nicht bitter, noch quellend, noch stechend. Ich spüre in einigen seiner Gedichte eine tiefe beruhigende Stille und vor allem eine Philosophie des Lebens in leichten einfachen Wörtern.

Zohreh Rahmanian

Aktuell, Teil zehn

Aktuell, Teil zehn

Wenn die Liebe da seiWenn die Liebe da sei
ist es nicht nötig, dass du keine Schwäche hast
ist es nicht nötig, dass du keinen Makel hast
ist es nicht nötig, dass wir nicht streiten
ist es nicht nötig, dass jede Ecke des Hauses gemäß meinem Wunsch sei
ist es nicht nötig, dass jeder Tag ein sonniger Tag sei
ist es nicht nötig, dass es kein Ärger gebe
ist es nicht nötig, dass es keine Hindernisse gebe
ist es nicht nötig, dass das Böse nicht existiere
ist es nicht nötig, dass ich keinen schwierigen Nachbar habe
ist es nicht nötig, dass alles auf der Welt mich anspreche
ist es nicht nötig, dass die Geschichte nicht grausam sei

wenn die Liebe da sei
ist es nicht nötig, dass ich nicht traurig sei
ist es nicht nötig, dass ich nicht leide

wenn die Liebe da sei
bin ich gut.


Engel

Heut war ich bei einer Freundin eingeladen. Unterwegs zu ihr begegnete ich in Bahn einer Frau. Sie war vor mir eingestiegen. Später stieg sie aus. Ich fuhr weiter.
Als ich auf dem Weg nach Hause war, begegnete ich derselben Frau in Bahn. Anscheinend war auch sie auf dem Weg nach Hause.
Mir passiert hin und wieder, dass eine Frau oder ein Mann mich in dieser Weise begleiten. Und sie sehen meistens sympathisch aus.
Wie stehest mit der Wahrscheinlichkeit, dass jemand zu gleicher Zeit mit dir in Bahn sei, dass er oder sie seine oder ihre Angelegenheiten mit den exakt gleichen Zeitabstand erledigen, wie du, und dass er oder sie zu gleichem Zeitpunkt mit dir in selber Bahn nach hause fahren?
Die Wahrscheinlichkeit, dass es Engels gebe, sei nicht noch geringer!
Auch Engel begleiten mich.


Zwei Freundinnen

Zwei Freundinnen
am Seeufer
schwarze Hosen
schwarze Blusen
die Haare nach hinten gebunden
die Füße im Wasser
hinter ihnen zwei Fahrräder
zwei paar Turnschuhe
schwarz
gleich

eine Asiatin
eine Deutschin

die Socken neben den Schuhen habe ich vergessen
sie waren nicht gleich.


Und wie!

Die Frau und der Mann im Nachbarhaus. Sie verlassen gemeinsam das Haus. Sie gehen gemeinsam einkaufen. Sie gehen gemeinsam joggen. Sie kommen gemeinsam nach Hause. Fast sehe ich sie zusammen.
Sie stammen aus Asien. Aus welchem Land, weiß ich nicht genau. Ich kann schwer Japaner und Chinesen und Koreaner voneinander unterscheiden. Wie die Deutschen uns Iraner und Afghanen nicht leicht von einander unterscheiden. Aber es ist nicht relevant, sie kommen aus Asien.
Wenn du sie nebeneinander stehen siehst, könntest du denken, sie hätten miteinander nicht zu tun. Aber sie haben miteinander zu tun. Und wie!


Ein Tag danach

Es gibt soviel Sorten von Jogurt
man weiß nicht, welche er nehmen soll

es gibt soviel Sorten von Käse
man weiß nicht, welche er nehmen soll

es gibt soviel Sorten von Zahnpasta
man weiß nicht, welche er verbrauchen soll

es gibt soviel schicke Schuhen
man weiß nicht, welche er kaufen soll

es gibt soviel schicke Taschen
man weiß nicht, welche er kaufen soll

es gibt soviel interessante Musik
man weiß nicht, welche er hören soll

es gibt soviel interessante Bücher
man weiß nicht, welche er lesen soll

es gibt soviel interessante Frauen
man weiß nicht, welche er lieben soll

ein nach dem anderen
abgesehen von der Frau
eine Frau, die interessant sei, ist ein Tag danach noch interessanter.