Donnerstag, 5. November 2009

Aktuell, Teil zwei

Teil zwei


Was in meinem Interesse liegt

Was in Interesse der Arbeiterklasse liegt, liegt in Interesse der Menschheit
was in Interesse der Partei der Arbeiterklasse liegt, liegt in Interesse der Arbeiterklasse
was in Interesse des Zentralkomitees der Partei der Arbeiterklasse liegt, liegt in Interesse der Partei der Arbeiterklasse
was in Interesse des Politbüros des Zentralkomitees der Partei der Arbeiterklasse liegt, liegt in Interesse des Zentralkomitees der Partei der Arbeiterklasse
was in Interesse des Sekretärs des Politbüros des Zentralkomitees der Partei der Arbeiterklasse liegt, liegt in Interesse des Politbüros der Zentralkomitees der Partei der Arbeiterklasse

ich bin der Sekretär des Politbüros
was in meinem Interesse liegt, liegt in Interesse des Politbüros, liegt in Interesse des Zentralkomitees, liegt in Interesse der Partei, liegt in Interesse der Arbeiterklasse, liegt in Interesse der Menschheit
also, was in meinem Interesse liegt, liegt in Interesse der Menschheit
daher ist es menschlich und wahr
genau so denkt auch ein dummer Kapitalist
ich lehne den Kapitalismus ab.


Es ist gut

Es ist gut, wenn ich ab und zu gewissen Menschen begegne. Danach sage ich mir, wie unter anderem wunderbar der Mensch ist. Das belebt mein Weltbild wieder. Gewisse Erfahrungen mit Menschen betrüben unser Weltbild.


Eine Reise ins Unbekannte

Ich habe für meine Schwächen
und für deine Schwächen
einen Preis bezahlt

und alles, was ich von Stärken habe,
verdanke ich mir und dir

die Schwächen machen das Leben interessant
die machen uns einzigartig und sensibel
sie beglücken unser Leben mit einer Dynamik

und oft setzen sie eine Geschichte in Gang
eine Reise ins Unbekannte
wir lernen unser unbekanntes Ich kennen.

Samstag, 19. September 2009

Gedichte, Teil zwei

Teil zwei
Elf Gedichte

Ausgewählte Gedichte 1998-99, veröffentlicht in: Welfengarten, Jahrbuch für Essaysmus, herausgegeben von Leo Kreutzer und Jürgen Peters, Nr. 9, 1999, Revonnah Verlag.


Meine Ichs

Ich habe ein ich
das tut

ich habe ein zweites ich
das beobachtet
was ich tue

ich habe ein drittes ich
das tut
was es will
und hört gar nicht auf mich

und ich habe ein viertes ich
das mit allen meinen ichs
befreundet ist

es ist aber leider nicht immer
zu Hause

Der Traum

Sie waren zu viert
und sie waren unzufrieden
drei dachten
der vierte sei die Ursache
ihrer Unzufriedenheit
und beseitigten ihn

sie waren zu dritt
und sie waren nicht zufriedener als vorher
zwei dachten
der dritte sei die Ursache
ihrer Unzufriedenheit
und beseitigten ihn

sie waren zu zweit
und sie waren nicht zufriedener als vorher
einer dachte
der andere sie die Ursache
seiner Unzufriedenheit
und beseitigte ihn

nun war der eine allein
und er war nicht zufriedener als vorher
er träumte sich einen Feind
der Traum war nicht zufrieden
und beseitigte ihn


Das kann doch nicht wahr sein

Wer mit den Feinden des Volkes
eine Beziehung eingeht ist ein Verräter

wer mit einem Verräter eine Beziehung eingeht
der mit den Feinden des Volkes eine Beziehung eingeht
ist ein Verräter

wer mit einem Verräter eine Beziehung eingeht
der mit einem Verräter eine Beziehung eingeht
der mit den Feinden des Volkes eine Beziehung eingeht
ist ein Verräter

wer mit einem Verräter eine Beziehung eingeht
der mit einem Verräter eine Beziehung

das kann doch nicht wahr sein
ich bin ein Verräter


Mathematische Gleichung

Eins plus zwei ist gleich drei
also
ich habe zwei Freunde
dann sind wir zusammen drei

eins plus eins ist gleich zwei
also
ich habe einen Freund
dann sind wir zusammen zwei

eins minus eins ist gleich null
also
ich habe meinen Freund verloren
dann sind wir zusammen null

aber ich fühle mich nicht wie null
es fehlt mir sogar etwas
ich fühle mich wie minus eins
daher ist eins minus eins gleich minus eins

mathematisch habe ich zwei Freunde verloren
also
eins minus zwei ist gleich minus eins


Ein Traum

Ich hatte einen roten Pullover
auf einer Reise verlor ich ihn

ich machte mich auf den Weg
überallhin
und fand ihn nirgendwo wieder
es gab zwar rote Pullover
aber ich dachte
meiner hätte eine dunkelrote Farbe

müde und enttäuscht kehrte ich zurück
nach Hause
ich öffnete die Tür
im Wohnzimmer
vor den Fenster
auf einem Stuhl
lag ein alter roter Pullover
ich zögerte noch
aber dann zog ich ihn an
und fühlte mich wohl


Der Mustermann

Ich heiße Mustermann
meine Frau heißt Musterfrau
wir haben zwei Kinder
die heißen Mustersohn und Mustertochter
unsere Wohnung heißt Musterwohnung
wir haben ein Musterwohnzimmer
ein Musterschlafzimmer
zwei Musterkinderzimmer
und eine Musterküche
unsere Lieblinsspeise heißt Musterspeise
wir haben auch ein Musterfernsehen
und unser Lieblinsprogramm heißt Musterprogramm

kurz gesagt
ich bin ein Mustermensch

aber wissen Sie
das Wort Mustermensch hat gerade in mir
ein Gefühl ausgelöst
das sich meinem Mustergefühl widersetzt
ich nehme meine letzte Aussage zurück


Schade

Der Kaffee schmeckt gut
nur schade, dass du keine Milch hast

es tut mir leid, dass ich keine Milch habe

der Kaffee schmeckt mit Milch gut
nur schade, dass du keinen Zucker hast

es tut mir leid, dass ich keinen Zucker habe

der Kaffee schmeckt mit Milch und Zucker gut
nur schade, dass du keinen Kuchen hast

es tut mir leid, dass ich keinen Kuchen habe

der Kuchen schmeckt mit Kaffee gut
nur schade, dass ich mich ein wenig langweilig fühle

es tut mir leid, dass du dich langweilig fühlst


Warme Träume

Draußen ist es kalt
ich ziehe ein paar warme Träume an
und gehe spazieren

die Passanten gucken mich an
als ob ich nackt sei


Eine Brücke

Meine Vergangenheit
hat keine Zukunft
und meine Zukunft
keine Vergangenheit

ich baue eine Brücke
dazwischen

in der Brücke findet meine Vergangenheit
eine Zukunft
und meine Zukunft eine Vergangenheit

ich sterbe
und auferstehe wieder

(Geänderte Fassung)


Selbstbilder

Am Morgen
bevor ich von Zuhause weggehe
ist mein Selbstbild realistisch

gegen Mittag verändert es sich
zu einem expressionistischen Selbstbild

am Abend ist mein
Selbstbild kubistisch

in der Nacht bin ich Impressionist


Das Vorgespräch

Was ich mit ihm besprechen will
bespreche ich vorher mit mir selber

wo ich nicht recht habe ärgert er sich
und ich gebe ihm recht
wo er nicht recht hat ärgere ich mich
aber er gibt mir nicht recht

ich glaube es ist besser
wenn ich ihn gleich besuche





Dienstag, 8. September 2009

Bilder, Teil eins
















Aktuell, Teil eins

Teil eins


Mein Kugelschreiber und meine Schuhe

Ein Gedanke, der nicht mein Gedanke sei, ist kein falscher Gedanke
eine Moral, die nicht meine Moral sei, ist keine falsche Moral
ich schreibe mit der Kugelschreibermarke, mit der ich als ein Junger schrieb
ich trage die Schuhmarke, die ich als ein Junger trug
übrigens, die Welt hat sich verändert
und ich habe mich verändert
die Welt ändert sich
und ich ändere mich
meinem Kugelschreiber und meinen Schuhen und bleibe ich treu.


Für Benazir Bhutto

Heute

Heute kam Benazir Bhutto ums Leben
durch eine Attentat
verübt von einem Islamfanatiker

Pakistan ist ärmer geworden
ich lebe in Deutschland
und bin ein Iraner
auch ich bin ärmer geworden
an meiner Hoffnung

auf eine Welt
ohne Fanatismus.


Schöne Gesichter

Heute habe ich ein paar schöne Gesichter gesehen. Unterwegs und beim Einkaufen. Ein Gesicht sagt vieles über einen Menschen. Ob Mann oder Frau, ob Kinder oder im Alter. Besonderes ist ein schönes Gesicht im Alter von Bedeutung. Es ist eine Leistung, das Schöne an sich zu wahren. Über die Jahre hinweg. Über die all Tragödien und Dramen des Lebens hinweg.
Wenn ich Gesichtern begegne, begegne ich der Welt. Wenn ich einem schönen Gesicht begegne, begegne ich dem Schönen an der Welt. Ich empfinde eine tiefe Freude. Es ist vielleicht nicht viel, aber es ist bestimmt nicht wenig.
Ich fühle mich in der Welt Zuhause.


Dieses Land

Dieses Land hat viele Gesichter
manche dieser Gesichter mag ich
die anderen nicht
es genügt, damit ich mich hier wohlfühle

mein Land, Iran hat viele Gesichter
manche dieser Gesichter mag ich
die anderen nicht
es genügt, damit ich mich als ein Iraner wohlfühle

die Welt hat viele Gesichter
manche dieser Gesichter mag ich
die anderen nicht
es genügt, damit ich mich in der Welt wohlfühle

und ich habe viele Gesichter
manche dieser Gesichter mag ich
die anderen nicht
es genügt, damit ich mich in meiner haut wohlfühle.


Vielleicht reicht aus

Können wir unser Gewissen entlasten, ohne dabei unseren Stolz belasten und damit auch das Gewissen von einem anderen belasten?

Können wir unseren Stolz entlasten, ohne dabei unser gewissen belasten und damit auch den Stolz von einem anderen belasten?

Können wir unser Herz entlasten, ohne dabei unsere Freiheit belasten und damit auch das Herz von einem anderen belasten?

Können wir unsere Freiheit entlasten, ohne dabei unser herz belasten und damit auch die Freiheit von einem anderen belasten?

Ich kenne die Fragen, die Antworten nicht. Vielleicht reicht es aus, sich die Fragen hin und wieder zu vergegenwärtigen.


Können wir ein Gewissen entlasten, ohne dabei einen Stolz belasten und damit auch unser Gewissen belasten?

Können wir einen Stolz entlasten, ohne dabei ein Gewissen belasten und damit auch unseren Stolz belasten?

Können wir ein Herz entlasten, ohne dabei eine Freiheit belasten und damit auch unser herz belasten?

Können wir eine Freiheit entlasten, ohne dabei ein Herz belasten und damit auch unsere Freiheit belasten?

Ich kenne die Fragen, die Antworten nicht. Vielleicht es reicht aus, sich die Fragen hin und wieder vergegenwärtigen.
Ich plädiere nicht streng für Humanismus. Manchmal kommen wir ohne eine Wunde nicht davon. Sei es ein verletztes Gewissen, ein verletzter Stolz, ein verletztes Herz, oder eine verletzte Freiheit. Von uns und ebenso von einem anderen. Manchmal sei es angesagt, unseren Schmerz und den Schmerz von einem anderen auszuhalten.


In einpaar Tagen

Abgestürzt
tief
in einem Abgrund

ich spüre es an meinen Gedanken
und an meinen Gefühlen
sie sind düster
als ob ein lästiges Insekt auf meiner Haut kriecht

in einpaar Tagen werde ich darüber lachen
und einen Schmetterling auf meinen Fingern rühren spüren


Der tag ist ein leeres Blatt

Der Tag ist
ein leeres Blatt
in meiner Jacketasche

in der Nacht
nehme ich es raus und lese es durch
nicht alle Zeile drin gefällt mir
ich lasse sie so bleiben

und nehme ein neues Blatt, knicke es ein
und stecke es in meine Jaketasche

für Morgen.

Texte, Teil eins

Teil eins


Das Fahrrad

Anfang Dezember, als Schnee und Kälte begannen, putzte ich mein Fahrrad, und parkte es an einem geschützten Platz.
Nun sind mehr als drei Monate seit jenem Tag vergangen. In der Nacht, vor dem Einschlafen erinnere ich mich, dass ich in dieser Zeit mehr als hundert Mal an meinem Fahrrad vorbeigegangen bin, ohne es anzublicken. Ich verspreche mir, es morgen anzusehen und beruhigt schlafe ich ein.


Wassermelone

Ich habe ein gestörtes Verhältnis zur Wassermelone. Das war nicht immer so. In meiner Heimat Iran genoss ich den Geschmack von Wassermelonen in den warmen Jahreszeiten. In den kalten Jahreszeiten genoss ich die Sehnsucht danach.
In der Nacht des Winteranfangs, der längsten Nacht des Jahres, bei und Jaldanacht genannt, genossen wir die letzte sorgfältig aufbewahrte Wassermelone. Das war gleichzeitig der Abschied von ihr.
Hier in Deutschland war das anderes. Hier gibt es in allen Jahreszeiten Wassermelone. Anfangs freute ich mich und kaufte mir auch mal im Winter eine Wassermelone. Da geschah etwas, was ich nicht vermutete. Ich verlor allmählich die Sehnsucht nach ihr. Für einige Jahre boykottierte ich den Einkauf von Wassermelonen. Das half nicht. Ich hatte das Gefühl, ich mache mich damit nur lächerlich.
Der Verlust meiner Sehnsucht nach Wassermelonen ist eine Folge der Globalisierung. Sie hat es ermöglicht, dass es auch im Winter Sommerfrüchte auf dem markt gibt. Wahrscheinlich gibt es auch im Iran nun in allen Jahreszeiten Wassermelonen. Ich habe nicht vor, mich damit abzufinden. Ich kaufe mir Wassermelone nur einmal im Winter und wahre meine Sehnsucht nach ihr.


Ein Haus

Ich hatte kein Zuhause. Und ich hatte einige Wörter, mit denen ich nichts anfangen konnte. Hin und her, hin und her, hin und her. Es fiel mir ein, ich baue mit ihnen ein Haus.
Ich habe eine gründliche Einstellung zu dem Wort Lust. Ich baute den Grund mit dem Wort Lust. Die Wände müssen stabil sein. Ich baute sie mit dem Wort Eigensinn. Fenster müssen mich mit der Welt verbinden. Ich baute sie mit dem Wort Traum. Das Dach gibt dem Haus erst einen Sinn. Ich baute es mit dem Wort Sinn. Die Haustür muss in mir Freude wecken, wenn ich weggehe oder zurückkehre. Ich baute sie mit dem Wort Freude.
Das Haus ist fertig. Und mir ist das Wort Glück übriggeblieben. Ich schenke es euch.


In der Fußgängerzone

In der Fußgängerzone unserer Stadt kreuzen sich vier Straßen und ein Gasse in Mitten der Stadt. Auf der Straßen laufen die Leute Parallel in einer Richtung oder in den entgegen gesetzten Richtungen. In der Mitte unserer Stadt kreuzen sich die Wege der Passanten mit allen möglichen Winkeln. Sie kommen aus verschiedenen Richtungen oder gehen in die verschiedenen Richtungen. Und da befindet sich ein Mahnmahl mit einer großen Uhr. Hier verabreden sich die Leute. Wenn du vorbeigehst, siehst du immer ein paar Leute da stehen.
Hier kreuzen sich meistens die Lebenswege.

Geschichten, Teil eins

Teil eins

Die Frontlinie liegt in mir.
Ingeborg Bachmann

Das Eis

Parvin begegnete Manutchehr mehrmals beim Einkaufen im Supermarkt. Sie ahnte, Manutchehr müsse ein Iraner sein. Er gefiel ihr nicht besonderes. Sie hatte ihm gegenüber aber keine Abneigung. Bis jenem verschneiten Tag, als es geschah.

Seit mehreren Tagen schneite es. Auch wenn der Schneefall mal unterbrochen war, hatten alle das Gefühl, es fange bald wieder an. Es war nicht sehr kalt. Es war auch nicht so warm, dass der Schnee auf der Straße schmölze. Und in dem Moment, in dem Parvin Manutchehr sah, schneite es in dichten Flocken. So dicht, dass die Fußspuren sofort verwischten. Manutchehr hatte in einer Hand eine Einkaufstüte und in der anderen ein Eis und kam aus dem Supermarkt. Er leckte am Eis und ging nach Hause. Er weckte Parvins Aufmerksamkeit. Sie dachte, er muss ein interessanter Typ sein, wenn er mitten im Winter, während es schneit, auf der Straße Eis isst. Hätte es nicht so dicht geschneit, hätte Manutchehr Parvins Neugier bemerkt. Aber er merkte davon nichts. Diese Szene genügte, damit Parvin beschloss, Manutchehr kennenzulernen. Sie wusste, er kaufte immer nachmittags ein. Und es war nicht schwer, ihm beim Einkaufen zufällig zu begegnen.

Am nächsten Tag begegneten sie sich im Supermarkt, als sie hinaus gingen. Um die Gelegenheit nicht zu verpassen, fragte Parvin Manutchehr:
"Sind Sie Iraner?"
Manutchehr antwortete ihr freundlich und sie fingen an, miteinander zu sprechen. Mit ihrer Geschicklichkeit gelang es Parvin, von ihm am Abend zu einem Besuch eingeladen zu werden. Parvin hatte einen hinreichenden Grund, Manutchehr zu mögen. Und Manutchehr hatte ein hinreichendes Bedürfnis, eine Frau kennenzulernen. So waren sie nach ein Paar Tagen eng befreundet. Sie besuchten sich nun gegenseitig.

Die gegenseitigen Besuche erweiterten sich. Mal blieb Parvin ein paar Tage bei Manutchehr und mal anderes herum. Sie liebten einander und sie hatten das Gefühl, sich für immer zu lieben. Auf der Straße lag noch der Schnee, der in den vergangenen Wochen gefallen war. Parvin fragte Manutchehr, der bei ihr zu Gast war, ob er sich etwas wünsche, damit sie es für ihn einkaufen könne. Und Manutchehr, ohne dieser Frage Aufmerksamkeit zu schenken, antwortete ihr:
"Nein, danke!"

Nach einigen Wochen luden sie Bekannte ein, um ihre Freundschaft mit ihnen gemeinsam zu feiern. Die Gäste gingen weg. Und sie beide bereiteten sich vor, ins Bett zu gehen. Sie schliefen schon vorher miteinander. Diese Nacht sollte sich nicht viel von den vergangenen unterscheiden. Aber Parvin war beunruhigt. Es gab ein Problem, das sie sich nicht erklären könnte. Sie fragte schließlich Manutchehr:
"Warum hattest du in der Zeit, in der wir zusammen sind, keine Lust auf Eis?"
Er errötete und antwortete zögernd:
"Ich war krank. Daher kaufte ich mir ab und zu Eis. Mir wurde übel. Der Arzt empfahl mir, bei Übelkeit Eis zu nehmen. Seitdem ich dich kennengelernt habe, wird mir nicht übel, und ich esse kein Eis mehr."
Parvin freute sich sehr. Sie umarmten sich und hatten eine wunderschöne Nacht miteinander. Parvin hatte nun noch mehr Grund, Manutchehr zu lieben. Parvins Frage machte aber Manutchehr nachdenklich. Er war wieder beunruhigt. Anfangs gab die Wärme, die Parvin ausstrahlte, Manutchehr keine Gelegenheit viel nachzudenken. Aber mit der Zeit wurde Manutchehr wieder übel. Er kaufte sich wieder Eis, ohne dass Parvin es merken konnte. Dann nahm er das Eis auch offen vor Parvin. Und sie sprachen miteinander nicht mehr über Eis.


Die goldene Halskette

Akbar hatte das Gefühl, Mahmud habe keine Lust mit ihm zu plaudern. Er dachte, er könne ihn dafür nicht tadeln. Diese Nächte zählten zu den letzten Nächten für sie beide. Vielleicht sei Mahmud mit sich beschäftigt, dachte er und ließ ihn in Ruhe. Er fing an, sich seine Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen. Er fand nun die Erinnerungen an die Landschaften seiner Heimat schöner und lebendiger. Vielleicht waren sie einst genau so schön und lebendig, und die zeit hatte sie mit einem trüben Schleier bedeckt.

Mahmud beschäftigte etwas anderes in dieser Nacht. Wie leicht fing alles an, dachte er. Achtzehn Stunden nach seiner Verhaftung saß er im Verhörraum bei Saberi. Mit dem Rücken an der Wand und mit verbundenen Füßen bis zum Knie lag er auf dem Boden. Noch hatte Saberi nicht angefangen ihm Fragen zu stellen, da sagte Mahmud zu ihm:
"Sie haben gewonnen!"
Und er war selber von seiner Aussage überrascht. Saberi geriet in Verlegenheit. Schon seit fünf Jahren verhörte er die Gefangenen. Mehr als hundert von ihnen. Manche hatten viel Widerstand geleistet, manche nicht so viel, und einige waren von Anfang an wie verloren. Aber keiner hatte bis jetzt so mit ihm geredet. Er fühlte sich in seinem Stolz bestätigt. Er sagte:
"Sie haben auch einen guten Widerstand geleistet."
Mahmud war erleichtert. In drei Wochen, in denen er im Krankenhaus behandelt wurde, besuchte Saberi ihn einige Male.
Nach dem Aufenthalt im Krankenhaus war er wieder im Gefängnis. Saberi ließ ihn jedes Mal unter einem anderen Vorwand zu sich in den Verhörraum bringen. Mahmud wies anfangs jede Diskussion mit ihm ab. Dann aber nahmen ihre Gespräche einen normalen Verlauf an. Saberi machte ihm Vorwürfe, dass er sein Studium abgebrochen hatte, dass er auf seine berufliche Perspektive zu Gunsten der politischen Aktivität verzichtet hatte, und dass er gegen Schah , der den Fortschritt des Landes im Sinne hatte, kämpfte. Mahmud verbarg seine Meinungen vor ihm nicht. Er wies ihn auf das Elend hin, in dem Millionen von Menschen im Lande lebten.
Bevor er gerichtlich verurteilt war, sagte Saberi ihm, dass er zum Tode verurteilt würde. Er war mitverantwortlich für den Tod eines amerikanischen Generals.

Mahmud verließ den Verhörraum. Er bedeckte seinen Kopf mit seiner Jacke und ging mit einem Wächter zu seiner Zelle. Er berührte mit der Hand die Halskette in der Tasche seiner Hose. Er machte sich Vorwürfe, dass er das Geschenk angenommen hatte. Vielleicht sei sie ein Geschenk seiner Frau. Schließlich war er in der Zelle. Er freute sich. Der Wächter schloss die Tür zu. Mahmud nahm seine Jacke von seinem Kopf ab. Akbar fragte ihn:
"Hat er nicht gesagt wann?"
"Nein!", antwortete Mahmud.
Die Decke auf dem Teppichboden war zwar nicht dick, sie war aber besser als der dünne Teppichboden. Akbar sagte: "Denkst du, sie holen uns morgen ab?" "Ich weiß es nicht.", antwortete Mahmud. "Sie haben die anderen letzte Woche in zwei Gruppen abgeholt. Vielleicht holen sie uns morgen ab."

Früh morgens, um fünf Uhr holten sie Mahmud und Akbar zur Erschießung ab. Unterwegs hatte Mahmud das gleiche Gefühl wie in der Schule, wenn er an die Tafel gerufen wurde. Er fühlte sich damals ein wenig beunruhigt. Dann aber beruhigte er sich. Nun beruhigte er sich auch. Nach dem Schießbefehl beugten sich seine Knie, und sein Köpf fiel auf seine Brust. Der Offizier, der der Erschießungsgruppe den Befahl gab, nährte sich ihm und gab ihm den Gnadenschuss. Dann sagte er dem Unteroffizier:
"Warum haben sie ihm nicht gesagt, er solle seine Sachen seiner Familie überlassen? Er hat eine Halskette bei sich."
Der Unteroffizier antwortete:
"Als er uns übergeben wurde, haben wir die Halskette nicht bei ihm gesehen."
"Sie ist wohl nicht echt.", Sagte der Offizier.


Der Fremde

Es gab keine Anzeichen mehr dafür, dass Ahmad erst gestern in diese Wohnung eingezogen war. Und einem Flüchtling gehört auch nicht so viel, dass seine Einordnung mehrere Tage in Anspruch nehmen würde. Insbesondere, wenn er Student und alleinstehend ist. Dennoch beschäftigte er sich seit gestern völlig mit der Einrichtung seiner neuen Wohnung. Nicht nur seit gestern war er damit beschäftigt. Seine Unruhe und Sorgen begannen schon vor ein paar Wochen, seit es feststand, dass er umziehen würde. Er war der Meinung, der Umzug in eine neue Wohnung müsse ein schwieriges Unternehmen sein. Auch heute war er noch mit seinen Sorgen beschäftigt, obwohl er gestern seine Freunde, die ihm zur Hilfe kamen, gehen ließ. Erst als er den letzten Vorhang in der Küche aufgehängt hatte und einsah, dass nun alles in der Wohnung aufgeräumt war, fühlte er sich wohl.
Nun, wo er keine Sorgen mehr hatte, stellte er den Stuhl, den er beim Aufhängen des Vorhanges benutzt hatte, an seine Stelle am kleinen Küchentisch. Er setzte sich darauf und drehte sich eine Zigarette. Er zündete sie an. Er war mit der Zigarette noch nicht fertig, da fühlte er sich bedrückt. Der Stadtteil, in dem er vorher wohnte, gefiel ihm nicht besonderes, aber nun, da er ausgezogen war fühlte er sich ihm verbunden. Dann machte ihn sein neuer Stadtteil neugierig. Er freute sich.

Er wohnte schon seit zwei Jahren in dieser Stadt. Nachdem sein Antrag auf Asyl anerkannt worden war, beschloss er, in dieser Stadt zu bleiben. Er kannte die Stadt nicht ganz. Er ließ sich dort nieder, wo er eine Wohnung fand. Nun, nach zwei Jahren, kannte er die Stadt bereits besser. Er wusste, dass sein Stadtteil ein guter Stadtteil war. Ein großer Teil seiner Bewohner bestand aus Studenten und Ausländern. Der andere Vorteil des Stadtteils war die kurze Entfernung zur Universität.
Es war Spätnachmittag, und die Läden blieben nicht lange auf. Ahmad zog sich um und ging einkaufen. Er fand ein paar Supermarkte in der Hauptstraße seines neuen Stadtteils und kaufte da ein. Auf dem Rückweg kaufte er sich beim Kiosk an der Straße, in der er wohnte ein paar Flaschen Bier und ein Päckchen Tabak. Er sagte zu der Verkäuferin:
"Au Wiedersehen!"
"Tschüß!", erwiderte sie ihn.
Als er in seiner Wohnung ankam, fühlte er sich zufrieden. Er fand alles in Ordnung.

Zwei Tage später, als Ahmad vom Schwimmbad auf dem Weg nach Hause war, wusste er fast alles über seinen Stadtteil, was er wissen wollte. Er war schon im Park spazieren gegangen. Er wusste, bei wem er Schafkäse kaufen konnte. Und er hatte schon den kürzesten Weg zu der Universität ausprobiert. Am Kiosk, in der Nähe seiner Wohnung, kaufte er sich Tabak. Die Verkäuferin war dieselbe Frau, die er beim letzten Mal gesehen hatte. Er kaufte ein und sagte zu der Verkäuferin:
"Tschüß!"
"Auf Wiedersehen", antwortete die Verkäuferin.
Ahmad fiel auf, wie sich die Verkäuferin von ihm verabschiedete. Er erinnerte sich jetzt, wie sie letztes Mal von ihm Abschied genommen hatte. Er dachte darüber nach und fand es nicht so wichtig. Als er Zuhause war, hatte er es gar vergessen.
Beim nächsten Einkauf verabschiedete sich Ahmad mit "Auf Wiedersehen". Die Verkäuferin erwiderte ihm mit "Tschüß". Beim nächsten Mal sagte er "Tschüß" und sie erwiderte ihm mit "Auf Wiedersehen". Es kam zu einer Wiederholungsreihe. Tschüß" "Auf wiedersehen", "Auf Wiedersehen" "Tschüß", "Tschüß" "Auf Wiedersehen", "Auf Wiedersehen" "Tschüß".

Allmählich konnte Ahmad dieses Problem, das er bis jetzt für unwichtig hielt, nicht vergessen. Nach jeder Wiederholung beschäftigte er sich ernsthafter damit. Nun, um einem Fehler vorzubeugen, schrieb er die letzte Abschiedsform in den Kalender auf seinem Schreibtisch. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war, dass ein normaler Vorgang, der alltäglich millionenfach unter den Leuten vorkommt, ihn in diesen Zustand gebracht hatte.
Er gab dem Problem eine Bedeutung, aber noch keine große, bis er eines Tages unterwegs zum Kiosk vergaß, wie die letzte Abschiedsform lautete. Erkehrte zurück und sah in seinem Kalender nach. Das war ihm zuviel.
Bevor er wieder zum Kiosk ging, ging er in seinem Zimmer hin und her und dachte darüber nach. Er fand sich lächerlich. Er fragte sich, wie so ein normaler Vorgang, der alltäglich millionenfach unter den Leuten vorkommt, ihn in diesen Zustand bringen konnte. Er war froh, dass keiner über ihn Bescheid wusste. Er geriet wieder in Aufregung. Erst als er wütend war, beschloss er, nie wieder bei diesem Kiosk einzukaufen. Nach kurzer Überlegung fand er seine Entscheidung nicht richtig. Warum sollte er auf sein Recht verzichten, bei diesem Kiosk einzukaufen. Dann kam er zu der Entscheidung, sich von der Verkäuferin immer mit einem "Auf Wiedersehen" zu verabschieden. Er war immerhin verletzt. Nun war er nicht mehr aufgeregt, aber er fand auch diese Lösung nicht richtig. Die Verkäuferin hatte sich immerhin mehrmals in einer vertrauten Form von ihm verabschiedet. Er war der Meinung, er beleidige die Verkäuferin, wenn er sich ständig in einer distanzierten Form von ihr verabschieden würde. Ihm fiel ein, dass es vielleicht besser wäre, mit ihr zu reden. Dieser Gedanke gefiel ihm nicht. Wie konnte er über ein solches Problem reden. Sie würde ihn lächerlich finden. Schließlich beschloss er, sich mit einem "Tschüß" von ihr zu verabschieden.

So vergingen ein paar Wochen. Und Ahmad sagte immer:
Tschüß!"
"Auf Wiedersehen!", erwiderte die Verkäuferin immer.
Anfangs war Ahmad ziemlich ruhig. Aber allmählich verwirrte ihn die Verkäuferin. Er kam zu der Einsicht, er hätte eine falsche Entscheidung getroffen. Nein, es konnte so nicht weiter gehen. Dieses Mal spürte er die Angelegenheit ernsthafter und tiefer als zuvor. Er fragte sich, wie so ein normaler Vorgang, der alltäglich millionenfach unter den Leuten reibungslos vorkommt, ihn in diesen Zustand bringen konnte. Er war froh, dass keiner über ihn Bescheid wusste. Er nahm sich vor, nie wieder bei diesem Kiosk einzukaufen. Um auf sein Recht nicht zu verzichten, bei diesem Kiosk einzukaufen, verzichtete er jedoch auf diese Lösung. Er war aber verletzt und konnte seinen Stolz nicht ignorieren. Er dachte eine Weile über den Konflikt zwischen Recht und Stolz nach und konnte keine Lösung finden, bei der beide eine Befriedigung gefunden hätten. Er dachte, es wäre vielleicht besser, gar nichts zu sagen. Aber er würde die Verkäuferin damit beleidigen. Und wenn er sie beleidige, beleidige er auch sich selbst, überlegte er. Er fand es nicht akzeptabel. Aber er war mit sich nicht im Klaren, ob er die Verkäuferin nicht beleidigen wollte oder sich selbst. Es blieb ihm der Ausweg übrig, sich immer mit der distanzierten Form von der Verkäuferin zu verabschieden.

So vergingen noch ein paar weitere Wochen. Und Ahmad sagte ihr zum Abschied:
"Auf Wiedersehen!"
"Tschüß!", erwiderte die Verkäuferin.
Anfangs beruhigte ihn dieses Vorgehen. Aber mit der Zeit verwirrte ihn die Verkäuferin wieder, und er war verzweifelt. Er hatte wieder eine falsche Entscheidung getroffen, dachte er. Er fragte sich, wie so ein normaler Vorgang, der alltäglich millionenfach unter den Leuten vorkommt, ihn in diesen Zustand bringen konnte. Er war so verzweifelt, dass er schwer einschlafen konnte. Er dachte, wenn er keinen Ausweg finden würde, würde er wahnsinnig werden. Er ließ sich alle frühren Lösungsmöglichkeiten furch den Kopf gehen. Er lehnte alle ab. Hilflos und verzweifelt machte er die Lichter in seinem Zimmer aus und ging ins Bett. Plötzlich stand er wieder auf und machte die Lichter an. Er jubelte vor lauter Freude.
"Ich habe es!"
"Ich habe es!"
Er sprach laut mit sich und ging in seinem Zimmer hin und her.
Am nächsten Abend ging er froh zum Kiosk. Er kaufte ein und beim Abschied sagte er:
"Tschüßidersehen!"
"Tschüßidersehen!", erwiderte die Verkäuferin.
"Ich habe gewonnen. Endlich hat sie mit mir in meiner Sprache geredet", sagte er zu sich. Und er wollte seinen Sieg feiern. Er hatte aber kein Bier mehr im Kühlschrank. Er ging zu dem anderen Kiosk und kaufte sich ein paar Flaschen Bier. Er trank das Bier und schlief ein.
Am nächsten Nachmittag wachte er auf. Er erinnerte sich an gestern. Er lachte. Dann wurde er neugierig.
"Wieso hat sie so reagiert?", fragte er sich. Er wartete bis zum Abend. Dann ging er zum Kiosk.
"Guten Abend!", sagte er.
"Guten Morgen!", erwiderte die Verkäuferin.
Er fing nun ein Gespräch mit der Verkäuferin an.
"Es ist schon dunkel. Warum haben Sie zu mir Guten Morgen gesagt?"
"Es ist egal, ob es Morgen oder Abend ist. Nehmen Sie es nicht so wichtig."
Und Ahmad nahm es nicht so wichtig.

Gedichte, Teil eins

Teil eins

Die oberste Aufgabe, zu der wir berufen sind,
ist für jeden, sein eigenes Leben zu führen.
Michel de Montaigne



Ausgewählte Gedichte 1987 – 1993, veröffentlicht in Welfengarten, Jahrbuch für Essayismus, herausgegeben von Leo Kreutzer und Jürgen Peters, Nr. 7, 1997.

Befreiung

Meine Leiche
auf den Schultern
bin ich auf dem Weg zu meinem Grab
sei es,
dass ich von mir befreit werde.


Sterne

Als ich ein kleines Kind war,
träumte ich,
dass di Mutter die Sterne putzte
nun
wenn ich daran denke,
wie entfernt die Sterne von mir sind,
werde ich traurig
und doch ist es schön,
wenn ich an die Sterne denke.


Einkaufsliste

Zweihundert Gramm Käse
zwei Kilo Kartoffeln
eine Packung Margarine
anderthalb Mark Freiheit
fünfzig Mark Gefühl


Der eiserne Fuß

In meiner Kindheit
zerstörte ein eiserner Fuß
mein Häuschen aus Pappe
seitdem fehlt bei jedem Haus,
das ich baue
irgendwas.


Herbst

Aus dem Tagebuch des Baumes
fällt ein Blatt
auf den Boden

eine Jahreszeit
verdirbt
unter dem Fuß der Fußgänger.


Wie süß

Wie süß
ein Glas Milch und eine Zigarette
zwischen den zwei Peitschen
und der Folterer
der zärtlichste Vater.


Parfüm

Meine Träume
und meine Erinnerungen
parfümiere ich
und beim Spaziergang,
wenn ich einem Bekannten begegne,
nehme ich wie ein Gentleman
den Hut ab und sage:
Guten Tag!


Die Untergrundbahn

Wiederholtes Anhalten der Bahnen
Lärm der Fahrgäste
und eine Taube,
die unvertraut hierhin und dahin blickt.


Das Bild und der Rahmen

Mein Vater
schenkte mir das Bild des Großvaters
mit Bart in einem Rahmen aus Holz
und sagte mir,
dass der Großvater ein guter Mensch war

ich schenke meinen Kindern das Bild meines Vaters
mit Krawatte in einem Rahmen aus Metall
und sage ihnen,
dass mein Vater ein guter Mensch war

meine Kinder
schenken ihren Kindern mein Bild
in einem Rahmen aus der Farbe der Zukunft
und sagen ihnen,
dass ich ein guter Mensch war

so verdirbt immer ein Mensch in einem Rahmen.


Der Flüchtling

In meinem Heimatland
war ich jemand,
der seine Vergangenheit fürchtete

im Exil
bin ich jemand,
der seine Zukunft fürchtet.


Ich liebe mein Heimatland nicht

Ich liebe mein Heimatland nicht
wenn ich aber meine Landsleute treffe,
frage ich:
"Was gibt es Neues im Iran?"

dieses Land liebe ich auch nicht
aber jeden Abend
warte ich auf die Nachrichten im Fernsehen.


Mein Freund

Noch kann mein Freund
sich selbst nicht belügen
er kommt zuerst zu mir
und erzählt mir seine Lüge so aufrichtig,
dass ich sie für wahr halte
dann wagt er es,
seine Lüge anderen zu erzählen,
bis er selbst daran glauben kann.


Als ich sie zum ersten Mal sah

Als ich sie zum ersten Mal sah,
fiel mir ein,
dass ich sie kenne

als ich sie zum zweiten mal sah,
fiel mir ein,
woher ich sie kenne
sie war mein verlorenes Gesicht.


Die Menschen

Die Menschen,
die ich bis jetzt gekannt habe,
bestehen aus zwei Gruppen:
die, die größer als sie selbst sind
und die, die kleiner als sie selbst sind

wenn ich größer als ich selbst bin,
beneide ich diejenigen,
die kleiner als sie selbst sind
und wenn ich kleiner als ich selbst bin,
beneide ich diejenigen,
die größer als sie selbst sind.


Die Wand

In deinen Augen
spüre ich das Schattenbild einer Wand,
die immer zwischen mir und dem Glück stand.


Der Stacheldraht

Ich sah einen schönen Vogel,
der sein Nest auf dem Stacheldraht baute
ich jagte ihn weg,
damit er sein Nest auf einem grünen Baum baut

als ich wieder da war,
sah ich ein Vogelnest auf dem Stacheldraht
und merkte,
wie schön der Stacheldraht aussah.


Dennoch

Mein Traum war,
die Welt zu verändern
die Welt hat aber mich
leise und gewandt verändert
dennoch bereue ich nicht,
auf die Welt gekommen zu sein.


Wenn die Welt ein Fußballplatz wäre

Wenn die Welt ein Fußballplatz wäre
und die Erde ein Ball
und Gott und Teufel
die Torwächter
was für eine aufregende Versuchung wäre es,
ein Tor in diesem Spiel zu schießen.


Ein Teller Reis

Mein Teller ist voll von Reis
und mein Nachbar hat nichts zu essen
ich werde ihn nicht zum Tisch einladen,
denn dann haben wir zwei Halbhungrige
hungriger als Vollhungriger

vielleicht würden Sie sagen,
warum soll ich ihm nicht den Teller Reis schenken
nein! Das finde ich auch nicht richtig,
denn der Reis schmeckt demjenigen besser,
der ihn kocht
und wir sollen nicht nur an den Menschen denken,
sondern auch an den Reis.


Um glücklich zu sein

Um glücklich zu sein,
brauche ich
einen Baum
ein Buch
und ein Ich,
das sich unter den Baum legt
und das Buch liest

ich habe den Baum
das Buch auch
aber kein Ich.


Herb

Über die Kindheit
freue ich mich nicht,
sie hatte ein bitteres Ende

über die Liebschaften
freue ich mich nicht,
sie hatten ein bitteres Ende

meine Freude am Leben
besteht nun aus dem herben Geschmack von Kaffee,
den ich täglich trinke.


Die Leute von hier

Die Leute von hier
gehen ohne Sorge auf die Straße
und schauen mit Sorge die Zukunft an

die Leute in meinem Heimatland
gehen mit Sorge auf die Straße
und schauen mit Hoffnung die Zukunft an

ich
gehe mit Sorge auf die Straße
und schaue mit Sorge die Zukunft an.


Das Problem

Ich könnte dich lieben,
wenn du nicht zuviel von mir erwarten würdest
ich würde aber zuviel von mir erwarten,
wenn ich dich lieben würde.


Der Unterschied

Manchmal genügt es,
eine Stunde zusammenzusitzen,
um lebenslang miteinander zu sein

manchmal genügt es nicht,
lebenslang miteinander zu sein,
um eine Stunde zusammenzusitzen.