Samstag, 19. September 2009

Gedichte, Teil zwei

Teil zwei
Elf Gedichte

Ausgewählte Gedichte 1998-99, veröffentlicht in: Welfengarten, Jahrbuch für Essaysmus, herausgegeben von Leo Kreutzer und Jürgen Peters, Nr. 9, 1999, Revonnah Verlag.


Meine Ichs

Ich habe ein ich
das tut

ich habe ein zweites ich
das beobachtet
was ich tue

ich habe ein drittes ich
das tut
was es will
und hört gar nicht auf mich

und ich habe ein viertes ich
das mit allen meinen ichs
befreundet ist

es ist aber leider nicht immer
zu Hause

Der Traum

Sie waren zu viert
und sie waren unzufrieden
drei dachten
der vierte sei die Ursache
ihrer Unzufriedenheit
und beseitigten ihn

sie waren zu dritt
und sie waren nicht zufriedener als vorher
zwei dachten
der dritte sei die Ursache
ihrer Unzufriedenheit
und beseitigten ihn

sie waren zu zweit
und sie waren nicht zufriedener als vorher
einer dachte
der andere sie die Ursache
seiner Unzufriedenheit
und beseitigte ihn

nun war der eine allein
und er war nicht zufriedener als vorher
er träumte sich einen Feind
der Traum war nicht zufrieden
und beseitigte ihn


Das kann doch nicht wahr sein

Wer mit den Feinden des Volkes
eine Beziehung eingeht ist ein Verräter

wer mit einem Verräter eine Beziehung eingeht
der mit den Feinden des Volkes eine Beziehung eingeht
ist ein Verräter

wer mit einem Verräter eine Beziehung eingeht
der mit einem Verräter eine Beziehung eingeht
der mit den Feinden des Volkes eine Beziehung eingeht
ist ein Verräter

wer mit einem Verräter eine Beziehung eingeht
der mit einem Verräter eine Beziehung

das kann doch nicht wahr sein
ich bin ein Verräter


Mathematische Gleichung

Eins plus zwei ist gleich drei
also
ich habe zwei Freunde
dann sind wir zusammen drei

eins plus eins ist gleich zwei
also
ich habe einen Freund
dann sind wir zusammen zwei

eins minus eins ist gleich null
also
ich habe meinen Freund verloren
dann sind wir zusammen null

aber ich fühle mich nicht wie null
es fehlt mir sogar etwas
ich fühle mich wie minus eins
daher ist eins minus eins gleich minus eins

mathematisch habe ich zwei Freunde verloren
also
eins minus zwei ist gleich minus eins


Ein Traum

Ich hatte einen roten Pullover
auf einer Reise verlor ich ihn

ich machte mich auf den Weg
überallhin
und fand ihn nirgendwo wieder
es gab zwar rote Pullover
aber ich dachte
meiner hätte eine dunkelrote Farbe

müde und enttäuscht kehrte ich zurück
nach Hause
ich öffnete die Tür
im Wohnzimmer
vor den Fenster
auf einem Stuhl
lag ein alter roter Pullover
ich zögerte noch
aber dann zog ich ihn an
und fühlte mich wohl


Der Mustermann

Ich heiße Mustermann
meine Frau heißt Musterfrau
wir haben zwei Kinder
die heißen Mustersohn und Mustertochter
unsere Wohnung heißt Musterwohnung
wir haben ein Musterwohnzimmer
ein Musterschlafzimmer
zwei Musterkinderzimmer
und eine Musterküche
unsere Lieblinsspeise heißt Musterspeise
wir haben auch ein Musterfernsehen
und unser Lieblinsprogramm heißt Musterprogramm

kurz gesagt
ich bin ein Mustermensch

aber wissen Sie
das Wort Mustermensch hat gerade in mir
ein Gefühl ausgelöst
das sich meinem Mustergefühl widersetzt
ich nehme meine letzte Aussage zurück


Schade

Der Kaffee schmeckt gut
nur schade, dass du keine Milch hast

es tut mir leid, dass ich keine Milch habe

der Kaffee schmeckt mit Milch gut
nur schade, dass du keinen Zucker hast

es tut mir leid, dass ich keinen Zucker habe

der Kaffee schmeckt mit Milch und Zucker gut
nur schade, dass du keinen Kuchen hast

es tut mir leid, dass ich keinen Kuchen habe

der Kuchen schmeckt mit Kaffee gut
nur schade, dass ich mich ein wenig langweilig fühle

es tut mir leid, dass du dich langweilig fühlst


Warme Träume

Draußen ist es kalt
ich ziehe ein paar warme Träume an
und gehe spazieren

die Passanten gucken mich an
als ob ich nackt sei


Eine Brücke

Meine Vergangenheit
hat keine Zukunft
und meine Zukunft
keine Vergangenheit

ich baue eine Brücke
dazwischen

in der Brücke findet meine Vergangenheit
eine Zukunft
und meine Zukunft eine Vergangenheit

ich sterbe
und auferstehe wieder

(Geänderte Fassung)


Selbstbilder

Am Morgen
bevor ich von Zuhause weggehe
ist mein Selbstbild realistisch

gegen Mittag verändert es sich
zu einem expressionistischen Selbstbild

am Abend ist mein
Selbstbild kubistisch

in der Nacht bin ich Impressionist


Das Vorgespräch

Was ich mit ihm besprechen will
bespreche ich vorher mit mir selber

wo ich nicht recht habe ärgert er sich
und ich gebe ihm recht
wo er nicht recht hat ärgere ich mich
aber er gibt mir nicht recht

ich glaube es ist besser
wenn ich ihn gleich besuche





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