Dienstag, 8. September 2009

Gedichte, Teil eins

Teil eins

Die oberste Aufgabe, zu der wir berufen sind,
ist für jeden, sein eigenes Leben zu führen.
Michel de Montaigne



Ausgewählte Gedichte 1987 – 1993, veröffentlicht in Welfengarten, Jahrbuch für Essayismus, herausgegeben von Leo Kreutzer und Jürgen Peters, Nr. 7, 1997.

Befreiung

Meine Leiche
auf den Schultern
bin ich auf dem Weg zu meinem Grab
sei es,
dass ich von mir befreit werde.


Sterne

Als ich ein kleines Kind war,
träumte ich,
dass di Mutter die Sterne putzte
nun
wenn ich daran denke,
wie entfernt die Sterne von mir sind,
werde ich traurig
und doch ist es schön,
wenn ich an die Sterne denke.


Einkaufsliste

Zweihundert Gramm Käse
zwei Kilo Kartoffeln
eine Packung Margarine
anderthalb Mark Freiheit
fünfzig Mark Gefühl


Der eiserne Fuß

In meiner Kindheit
zerstörte ein eiserner Fuß
mein Häuschen aus Pappe
seitdem fehlt bei jedem Haus,
das ich baue
irgendwas.


Herbst

Aus dem Tagebuch des Baumes
fällt ein Blatt
auf den Boden

eine Jahreszeit
verdirbt
unter dem Fuß der Fußgänger.


Wie süß

Wie süß
ein Glas Milch und eine Zigarette
zwischen den zwei Peitschen
und der Folterer
der zärtlichste Vater.


Parfüm

Meine Träume
und meine Erinnerungen
parfümiere ich
und beim Spaziergang,
wenn ich einem Bekannten begegne,
nehme ich wie ein Gentleman
den Hut ab und sage:
Guten Tag!


Die Untergrundbahn

Wiederholtes Anhalten der Bahnen
Lärm der Fahrgäste
und eine Taube,
die unvertraut hierhin und dahin blickt.


Das Bild und der Rahmen

Mein Vater
schenkte mir das Bild des Großvaters
mit Bart in einem Rahmen aus Holz
und sagte mir,
dass der Großvater ein guter Mensch war

ich schenke meinen Kindern das Bild meines Vaters
mit Krawatte in einem Rahmen aus Metall
und sage ihnen,
dass mein Vater ein guter Mensch war

meine Kinder
schenken ihren Kindern mein Bild
in einem Rahmen aus der Farbe der Zukunft
und sagen ihnen,
dass ich ein guter Mensch war

so verdirbt immer ein Mensch in einem Rahmen.


Der Flüchtling

In meinem Heimatland
war ich jemand,
der seine Vergangenheit fürchtete

im Exil
bin ich jemand,
der seine Zukunft fürchtet.


Ich liebe mein Heimatland nicht

Ich liebe mein Heimatland nicht
wenn ich aber meine Landsleute treffe,
frage ich:
"Was gibt es Neues im Iran?"

dieses Land liebe ich auch nicht
aber jeden Abend
warte ich auf die Nachrichten im Fernsehen.


Mein Freund

Noch kann mein Freund
sich selbst nicht belügen
er kommt zuerst zu mir
und erzählt mir seine Lüge so aufrichtig,
dass ich sie für wahr halte
dann wagt er es,
seine Lüge anderen zu erzählen,
bis er selbst daran glauben kann.


Als ich sie zum ersten Mal sah

Als ich sie zum ersten Mal sah,
fiel mir ein,
dass ich sie kenne

als ich sie zum zweiten mal sah,
fiel mir ein,
woher ich sie kenne
sie war mein verlorenes Gesicht.


Die Menschen

Die Menschen,
die ich bis jetzt gekannt habe,
bestehen aus zwei Gruppen:
die, die größer als sie selbst sind
und die, die kleiner als sie selbst sind

wenn ich größer als ich selbst bin,
beneide ich diejenigen,
die kleiner als sie selbst sind
und wenn ich kleiner als ich selbst bin,
beneide ich diejenigen,
die größer als sie selbst sind.


Die Wand

In deinen Augen
spüre ich das Schattenbild einer Wand,
die immer zwischen mir und dem Glück stand.


Der Stacheldraht

Ich sah einen schönen Vogel,
der sein Nest auf dem Stacheldraht baute
ich jagte ihn weg,
damit er sein Nest auf einem grünen Baum baut

als ich wieder da war,
sah ich ein Vogelnest auf dem Stacheldraht
und merkte,
wie schön der Stacheldraht aussah.


Dennoch

Mein Traum war,
die Welt zu verändern
die Welt hat aber mich
leise und gewandt verändert
dennoch bereue ich nicht,
auf die Welt gekommen zu sein.


Wenn die Welt ein Fußballplatz wäre

Wenn die Welt ein Fußballplatz wäre
und die Erde ein Ball
und Gott und Teufel
die Torwächter
was für eine aufregende Versuchung wäre es,
ein Tor in diesem Spiel zu schießen.


Ein Teller Reis

Mein Teller ist voll von Reis
und mein Nachbar hat nichts zu essen
ich werde ihn nicht zum Tisch einladen,
denn dann haben wir zwei Halbhungrige
hungriger als Vollhungriger

vielleicht würden Sie sagen,
warum soll ich ihm nicht den Teller Reis schenken
nein! Das finde ich auch nicht richtig,
denn der Reis schmeckt demjenigen besser,
der ihn kocht
und wir sollen nicht nur an den Menschen denken,
sondern auch an den Reis.


Um glücklich zu sein

Um glücklich zu sein,
brauche ich
einen Baum
ein Buch
und ein Ich,
das sich unter den Baum legt
und das Buch liest

ich habe den Baum
das Buch auch
aber kein Ich.


Herb

Über die Kindheit
freue ich mich nicht,
sie hatte ein bitteres Ende

über die Liebschaften
freue ich mich nicht,
sie hatten ein bitteres Ende

meine Freude am Leben
besteht nun aus dem herben Geschmack von Kaffee,
den ich täglich trinke.


Die Leute von hier

Die Leute von hier
gehen ohne Sorge auf die Straße
und schauen mit Sorge die Zukunft an

die Leute in meinem Heimatland
gehen mit Sorge auf die Straße
und schauen mit Hoffnung die Zukunft an

ich
gehe mit Sorge auf die Straße
und schaue mit Sorge die Zukunft an.


Das Problem

Ich könnte dich lieben,
wenn du nicht zuviel von mir erwarten würdest
ich würde aber zuviel von mir erwarten,
wenn ich dich lieben würde.


Der Unterschied

Manchmal genügt es,
eine Stunde zusammenzusitzen,
um lebenslang miteinander zu sein

manchmal genügt es nicht,
lebenslang miteinander zu sein,
um eine Stunde zusammenzusitzen.

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