Teil eins
Die oberste Aufgabe, zu der wir berufen sind,
ist für jeden, sein eigenes Leben zu führen.
Michel de Montaigne
Ausgewählte Gedichte 1987 – 1993, veröffentlicht in Welfengarten, Jahrbuch für Essayismus, herausgegeben von Leo Kreutzer und Jürgen Peters, Nr. 7, 1997.
Befreiung
Meine Leiche
auf den Schultern
bin ich auf dem Weg zu meinem Grab
sei es,
dass ich von mir befreit werde.
Sterne
Als ich ein kleines Kind war,
träumte ich,
dass di Mutter die Sterne putzte
nun
wenn ich daran denke,
wie entfernt die Sterne von mir sind,
werde ich traurig
und doch ist es schön,
wenn ich an die Sterne denke.
Einkaufsliste
Zweihundert Gramm Käse
zwei Kilo Kartoffeln
eine Packung Margarine
anderthalb Mark Freiheit
fünfzig Mark Gefühl
Der eiserne Fuß
In meiner Kindheit
zerstörte ein eiserner Fuß
mein Häuschen aus Pappe
seitdem fehlt bei jedem Haus,
das ich baue
irgendwas.
Herbst
Aus dem Tagebuch des Baumes
fällt ein Blatt
auf den Boden
eine Jahreszeit
verdirbt
unter dem Fuß der Fußgänger.
Wie süß
Wie süß
ein Glas Milch und eine Zigarette
zwischen den zwei Peitschen
und der Folterer
der zärtlichste Vater.
Parfüm
Meine Träume
und meine Erinnerungen
parfümiere ich
und beim Spaziergang,
wenn ich einem Bekannten begegne,
nehme ich wie ein Gentleman
den Hut ab und sage:
Guten Tag!
Die Untergrundbahn
Wiederholtes Anhalten der Bahnen
Lärm der Fahrgäste
und eine Taube,
die unvertraut hierhin und dahin blickt.
Das Bild und der Rahmen
Mein Vater
schenkte mir das Bild des Großvaters
mit Bart in einem Rahmen aus Holz
und sagte mir,
dass der Großvater ein guter Mensch war
ich schenke meinen Kindern das Bild meines Vaters
mit Krawatte in einem Rahmen aus Metall
und sage ihnen,
dass mein Vater ein guter Mensch war
meine Kinder
schenken ihren Kindern mein Bild
in einem Rahmen aus der Farbe der Zukunft
und sagen ihnen,
dass ich ein guter Mensch war
so verdirbt immer ein Mensch in einem Rahmen.
Der Flüchtling
In meinem Heimatland
war ich jemand,
der seine Vergangenheit fürchtete
im Exil
bin ich jemand,
der seine Zukunft fürchtet.
Ich liebe mein Heimatland nicht
Ich liebe mein Heimatland nicht
wenn ich aber meine Landsleute treffe,
frage ich:
"Was gibt es Neues im Iran?"
dieses Land liebe ich auch nicht
aber jeden Abend
warte ich auf die Nachrichten im Fernsehen.
Mein Freund
Noch kann mein Freund
sich selbst nicht belügen
er kommt zuerst zu mir
und erzählt mir seine Lüge so aufrichtig,
dass ich sie für wahr halte
dann wagt er es,
seine Lüge anderen zu erzählen,
bis er selbst daran glauben kann.
Als ich sie zum ersten Mal sah
Als ich sie zum ersten Mal sah,
fiel mir ein,
dass ich sie kenne
als ich sie zum zweiten mal sah,
fiel mir ein,
woher ich sie kenne
sie war mein verlorenes Gesicht.
Die Menschen
Die Menschen,
die ich bis jetzt gekannt habe,
bestehen aus zwei Gruppen:
die, die größer als sie selbst sind
und die, die kleiner als sie selbst sind
wenn ich größer als ich selbst bin,
beneide ich diejenigen,
die kleiner als sie selbst sind
und wenn ich kleiner als ich selbst bin,
beneide ich diejenigen,
die größer als sie selbst sind.
Die Wand
In deinen Augen
spüre ich das Schattenbild einer Wand,
die immer zwischen mir und dem Glück stand.
Der Stacheldraht
Ich sah einen schönen Vogel,
der sein Nest auf dem Stacheldraht baute
ich jagte ihn weg,
damit er sein Nest auf einem grünen Baum baut
als ich wieder da war,
sah ich ein Vogelnest auf dem Stacheldraht
und merkte,
wie schön der Stacheldraht aussah.
Dennoch
Mein Traum war,
die Welt zu verändern
die Welt hat aber mich
leise und gewandt verändert
dennoch bereue ich nicht,
auf die Welt gekommen zu sein.
Wenn die Welt ein Fußballplatz wäre
Wenn die Welt ein Fußballplatz wäre
und die Erde ein Ball
und Gott und Teufel
die Torwächter
was für eine aufregende Versuchung wäre es,
ein Tor in diesem Spiel zu schießen.
Ein Teller Reis
Mein Teller ist voll von Reis
und mein Nachbar hat nichts zu essen
ich werde ihn nicht zum Tisch einladen,
denn dann haben wir zwei Halbhungrige
hungriger als Vollhungriger
vielleicht würden Sie sagen,
warum soll ich ihm nicht den Teller Reis schenken
nein! Das finde ich auch nicht richtig,
denn der Reis schmeckt demjenigen besser,
der ihn kocht
und wir sollen nicht nur an den Menschen denken,
sondern auch an den Reis.
Um glücklich zu sein
Um glücklich zu sein,
brauche ich
einen Baum
ein Buch
und ein Ich,
das sich unter den Baum legt
und das Buch liest
ich habe den Baum
das Buch auch
aber kein Ich.
Herb
Über die Kindheit
freue ich mich nicht,
sie hatte ein bitteres Ende
über die Liebschaften
freue ich mich nicht,
sie hatten ein bitteres Ende
meine Freude am Leben
besteht nun aus dem herben Geschmack von Kaffee,
den ich täglich trinke.
Die Leute von hier
Die Leute von hier
gehen ohne Sorge auf die Straße
und schauen mit Sorge die Zukunft an
die Leute in meinem Heimatland
gehen mit Sorge auf die Straße
und schauen mit Hoffnung die Zukunft an
ich
gehe mit Sorge auf die Straße
und schaue mit Sorge die Zukunft an.
Das Problem
Ich könnte dich lieben,
wenn du nicht zuviel von mir erwarten würdest
ich würde aber zuviel von mir erwarten,
wenn ich dich lieben würde.
Der Unterschied
Manchmal genügt es,
eine Stunde zusammenzusitzen,
um lebenslang miteinander zu sein
manchmal genügt es nicht,
lebenslang miteinander zu sein,
um eine Stunde zusammenzusitzen.
Dienstag, 8. September 2009
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